Was unter "Transformation" zu verstehen ist

Neuer WEGWEISER erklärt eine von Karl Polanyi entwickelte Theorie

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Transformation ist zum Modewort geworden, das überall angewendet wird, aber nicht mehr viel erklärt. Dabei beschreibt die von Karl Polanyi entwickelte Theorie tiefgreifende Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, die von einem sozial entfesselten Markt vorangetrieben werden. Solche marktgesteuerten Umbrüche sind zerstörerisch für Mensch und Natur. In der neoliberal geprägten Gegenwart wird die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation zur großen Herausforderung für das Überleben der Menschheit.

Dieser WEGWEISER ordnet die Transformations-Theorie in ihren historischen und politischen Kontext ein. Es ist die erste Ausgabe der neuen WEGWEISER-Reihe, mit der der NaturFreunde-Bundesvorstand mehr Klarheit in die politische und öffentliche Debatte bringen möchte.

Hier findest du den WEGWEISER zur Transformation als PDF-Download.

WEGWEISER TRANSFORMATION – Karl Polanyi steht am Anfang

Auf Anregung der NaturFreunde Deutschlands und des DGB organisierten im Jahr 2012 Gewerkschaften, Einrichtungen der EKD und Umweltverbände einen „Transformationskongress“. Das Thema war nicht beliebig gewählt, vielmehr bauten wir bewusst auf der Studie The Great Transformation von Karl Polanyi aus dem Jahr 1944 auf, die „Geschichte als Kampf zwischen Markt und Gesellschaft“ beschreibt.

Der Wiener Karl Polanyi war ein österreichisch-ungarischer Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler. Er definierte Transformation als tiefgreifende, vor allem vom Markt vorangetriebene Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Die Triebkräfte dafür sind in erster Linie finanzielle Gier und radikaler Egoismus.

Die entscheidende Ursache der Transformation ist für Polanyi die „Entbettung der Ökonomie“ aus gesellschaftlichen Bindungen. Die Idee eines selbstregulierenden Marktes war für ihn eine „krasse Utopie“. Denn die freien Marktkräfte erniedrigen menschliche Tätigkeiten, erschöpfen die Natur und machen die Wirtschaft krisenanfällig. Das Spannungsverhältnis zwischen Markt und Gesellschaft erfordere deshalb immer wieder eine regulierende Gegenmacht zu den Marktprozessen. In der Nachkriegszeit war das in unserem Land die Soziale Marktwirtschaft, heute muss es die soziale und ökologische Gestaltung der Wirtschaft sein. Doch in der Politik und den vielen Beratungsinstituten, die Politik machen wollen, ist scheinbar wenig bewusst, was unter Transformation zu verstehen ist.

Transformation ist heute ein Modewort

Transformation ist in den letzten Jahren zu einem Modewort geworden. Nahezu jede Veränderung, die stattfindet, jeder Prozess, der neu ist, wird scheinbar zur Transformation. Die kritische Theorie von Polanyi spielt dabei allerdings kaum eine Rolle. Ein entleerter Begriff von Transformation hat eine fast grenzenlose Konjunktur in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Beispiele: Die frühere DDR wurde zur Transformationswirtschaft, die EU-Staaten Mittel- und Osteuropas waren Transformationsgesellschaften. Gemeint war die harte Umstellung der Planwirtschaften auf die freie Marktwirtschaft mit ihren ungezügelten Verwertungszwängen. Aber genau das erforderte nach Polanyi eine kritische Betrachtung der Marktprozesse, die politisch, dabei vor allem sozial und ökologisch, gestaltet werden müssen.

Auch die Globalisierung und Digitalisierung der Welt werden heute gemeinhin als Transformation beschrieben. Dabei sind diese Prozesse in ihrer heutigen Form selbst eine Folge der Transformation, die nicht beschrieben, sondern gestaltet werden muss. Eine kritische Bewertung der Transformation muss mehr Klarheit über die Ursachen der marktgesteuerten Umbrüche schaffen und die Interessen aufzeigen, die dahinterstehen.

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU) wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Er forderte zwar im Jahr 2011 in einem Gutachten mit dem Titel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation die Rückgewinnung des politischen Terrains für gesellschaftliche Veränderungen, bleibt aber in der Darstellung sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Krisen modernistisch und über weite Strecken machbarkeitsselig, ohne den analytischen Tiefgang von Polanyi zu erreichen. In den letzten drei Jahrzehnten verlor die Kritische Theorie zunehmend an Bedeutung. Eine Ursache liegt in der Dominanz des Neoliberalismus in der Wirtschafts- und auch Gesellschaftspolitik.So e

ntstanden zwar in den letzten Jahren in Wirtschaft, Verwaltungen und der Politik Transformationsarbeitskreise. Bei der Bundesregierung existiert sogar ein Beirat für Transformation. In den Ministerien gibt es Transformationsreferate. Überall werden Transformationsbeauftragte eingesetzt. Viele Kongresse haben Transformation im Titel. An den Universitäten wird über eine transformative Wissenschaft geforscht. Auch die Werbung hat die Transformation längst für sich entdeckt.

In der Regel geschieht das allerdings ohne die politische und sozialwissenschaftliche Theorie Polanyis, denn seine Arbeit ist weitgehend unbekannt. Kurz: Transformation ist zu einem vielgebrauchten, aber nahezu beliebigen Begriff geworden. Mit Transformation wird alles gemeint und jedes beschrieben. Ohne inhaltliche Klärung wird Transformation jedoch zu einem dehnbaren Begriff. Mit der Fülle der „Transformationsbepflasterung“ der öffentlichen und politischen Debatte entsteht nicht etwa mehr Klarheit, sondern das Gegenteil ist der Fall: Alles, was sich verändert, was heute passiert, scheint Transformation zu sein.

Dabei ist die politische und soziale Gestaltung der Transformation die große Herausforderung des Industriezeitalters. Dessen Grundlage ist in der Theorie des französischen Sozialwissenschaftlers Alain Touraine die „Selbstproduktion der Gesellschaft“, welche durch die technisch-wirtschaftliche Dynamik, also den kapitalistischen Verwertungszwang angetrieben wird. Während in der Vergangenheit die soziale Gestaltung der Arbeitsverhältnisse (also die Gestaltung des Verteilungskonflikts zwischen Kapital und Arbeit mit Hilfe des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats) im Zentrum stand, kann die heutige „Theorielosigkeit“ die Transformation nicht verstehen. Dabei müssten zumindest die Gewinner* und Verlierer*innen der Transformation benannt werden.

Polanyis Analyse der liberalen Marktwirtschaft ist topaktuell

Auf dem Transformationskongress im Jahr 2012 wurde klar: Das Verständnis für die Gestaltung der Transformation setzt ein historisches, soziales und theoretisches Wissen voraus, welches gesellschaftliche Zusammenhänge versteht. Dann fällt es nicht schwer, Polanyis Aktualität seiner Analyse der liberalen Marktwirtschaft zu erkennen. Auch die neoliberale Wende, die im Jahr 2008 zur globalen Finanzkrise führte, ist – wie Polanyi bereits an der Weltwirtschaftskrise von 1928 herausgearbeitet hatte – eine „Revolution der Reichen gegen die Armen“, weil alles – von der Arbeit über die Natur bis zum Geld – zur Ware werden soll.

Dennoch halten die Akteur*innen in Staat, Wirtschaft und Wissenschaft oftmals die Behauptung aufrecht, die freie Marktwirtschaft sei die beste Wirtschaftsordnung, die allen zu Gute käme. Doch in erster Linie geht es dabei um die „monetäre Bonität“, also um hohe Profite und um die Interessen der Finanzmärkte.

Als Polanyi im Jahr 1944 sein Buch The Great Transformation veröffentlichte, verurteilte seine Zeitdiagnose die liberale Marktwirtschaft als Ursache für Krisen und Kriege. Für ihn war es der ökonomische Liberalismus von 1830 bis 1930, der die Gesellschaften zerstört, den Aufstieg des Faschismus möglich gemacht und in den Zweiten Weltkrieg geführt hatte. Erst danach konnte sich in den westlichen Industriestaaten der keynesianische Wohlfahrtsstaat durchsetzen.

Auch wenn Polanyi mit seiner Zukunftsprognose, dass die freie Marktwirtschaft ihr Ende finden werde, falsch lag, lässt sich aus seiner soziologisch-wirtschaftsanthropologischen Ursachenforschung noch immer viel über die möglichen Folgen des unregulierten Kapitalismus lernen. Und es lässt sich auch die gegenwärtige Situation verstehen, nachdem in den letzten Jahrzehnten der Neoliberalismus immer stärker durchgesetzt wurde.

Zur Beschreibung der Großen Transformation stand bei Polanyi: Der wirtschaftliche Liberalismus sei ein „neues Glaubensbekenntnis“, das behaupte, „alle menschlichen Probleme […] durch das Vorhandensein einer unbegrenzten Menge materieller Güter“ bewältigen zu können. In dieser Ideologie müsse es zu einer „Marktgesellschaft“ kommen, die zwangsläufig alles zur Ware mache, also Arbeit, Natur und Geld güterförmig in Waren umwandele. Diese liberale Fiktion einer allumfassenden Marktgesellschaft führe, so Polanyi, vor allem zur „katastrophalen Erschütterung des Lebens der einfachen Menschen“. Und auch zur Überlastung und Zerstörung der Natur.

Die freie Marktwirtschaft breche mit der gesellschaftlichen Einbindung der Ökonomie und löse so die Menschen aus ihrer sozialen und kulturellen Verwurzelung. Dass es in der Industriegesellschaft immer wieder zu Veränderungen kommt, war auch Polanyi klar. Aber die Dynamik der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche müsse kulturelle Identitäten und die soziale Sicherheit der Menschen bewahren. Mehr noch: Durch die Möglichkeiten des sozialen Fortschritts müsse das Leben für alle besser und gerechter werden. Die Politik müsse sich an den Fragen messen lassen, ob und wie sie diese Ziele erreiche.

Polanyi sah die Ursache für soziale Verschlechterungen und wirtschaftliche Krisen in der Radikalisierung der Marktprozesse. Die „liberale“ Theorie führe zu Zerrüttung und Krisen. Von den analytischen Einsichten Polanyis, welche Folgen freie Marktprozesse haben, ist die heutige Debatte weit entfernt.

New Deal oder Nationalismus, das ist hier die Frage

Die einseitige Steigerung ökonomischer Macht löse zudem, so Polanyi, unterschiedliche Gegenbewegungen aus, die entweder einen Nationalismus belebten oder aber durch die Gegenmacht der Arbeiter*innenschaft neue soziale Schutzmechanismen schaffen würden – wie etwa die Sozialgesetzgebung oder die Zentralbanken. Auch heute können diese Gegenbewegungen entweder Krisen verschärfen, wenn der Staat an der „Marktutopie“ festhält (wobei allein schon der Machtkampf zwischen Staat und Markt eine Gestaltungspolitik blockieren kann). Oder es kommt zu einer Gegenmacht, die so stark ist, dass sie strukturelle Reformen durchsetzen kann.

Polanyi arbeitete heraus, dass die Gegenreaktionen auf die ökonomischen und sozialen Verwerfungen der 1930er-Jahre entweder reaktionär-nationalistisch waren – wie der Nationalismus in Deutschland mit seinen verheerenden Folgen. Oder aber einen reformistischen Charakter annehmen können – wie der damalige New Deal des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Trotz der berechtigten Kritik an den sozialen Reformen Roosevelts, die damals nämlich nur für die weiße Bevölkerung der USA galten, war die Idee des Wohlfahrtsstaates, die auch von den Reformideen John Maynard Keynes beeinflusst war, progressiv. Roosevelts Überzeugung lautete, dass die „wirtschaftliche Freiheit sozial diszipliniert werden muss“.

Der Begriff New Deal kommt aus der Poker-Sprache und bedeutet, dass in einer verfahrenen Situation die Karten neu ausgeteilt werden müssen. Roosevelts New Deal wurde damals durch eine Karikatur symbolisiert, auf der ein Politiker, ein Banker und ein Unternehmer am Tisch Poker spielen. Davor stehen ein Arbeiter, ein Angestellter und ein Bauer, die verlangen, dass die Plätze getauscht werden und ein neues Spiel beginnt. Einen derartigen Neuanfang versprach Roosevelt damals dem amerikanischen Volk: „I pledge you, I pledge myself, a new deal for the American people.“

Auch heute könnte sich – nicht nur in Europa – ein neuer Nationalismus als „Ausweg“ aus den multiplen Krisen anbieten, der die völkische Einheit wieder zum Programm erhebt. Doch eine Lösung der großen Herausforderungen kann nur die soziale und ökologische Gestaltung der Transformation sein.

Polanyis Erklärung der Katastrophen

Polanyi wollte mit seiner Studie die ökonomischen und politischen Ursachen für die Katastrophen des letzten Jahrhunderts aufzeigen. Er wollte mit seiner Analyse aber auch Impulse für eine gute Zukunft geben. Mit der Transformationsdebatte sollte eine neue Deutungsmacht über die Prozesse in Wirtschaft und Gesellschaft gewonnen werden.

Auch auf dem bereits erwähnten Transformationskongress im Jahr 2012 wurde klar: In kapitalistischen Systemen sind die multiplen und heute sogar globalen Herausforderungen ohne grundlegende Strukturreformen und ohne eine Kultur der Gerechtigkeit nicht zu bewältigen.

Wichtig für eine Gestaltung der Transformation ist daher, dass der Staat die demokratische Gestaltungsmacht über die Marktprozesse gewinnt. Dazu gehört zuvorderst, die Demokratie selbst zu stärken und sie vor allem in den Wirtschaftsprozessen zu erweitern. Die Ausweitungen von sozialer Demokratie und mehr Freiheit werden dann zur großen Erzählung für die weitere Zukunft.

Die Transformationsdebatte in der globalisierten Welt

Polanyi fand mit seiner Diagnose lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit. Anfang der 1990er-Jahre griff der britische Universalhistoriker Eric Hobsbawm die Transformationsfrage für eine Bewertung des 20. Jahrhunderts auf. Angesichts der tiefgreifenden Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft kam er in seinem grundlegenden Werk Das Jahrhundert der Extreme zu der Prognose: „Das [letzte – die Autoren] Jahrhundert wird kein gutes Ende nehmen.“ Er nannte vor allem drei Gründe für die tiefgreifende Transformation:

  1. Das Ende des Eurozentrismus, der in den vergangenen zwei Jahrhunderten mit seinen Ideen der (unvollendeten) Moderne zum Weltmodell wurde. Doch die Länder, die einst auf Europa geblickt haben, blicken heute anderswohin. Europa erscheint ihnen als schwach, zerstritten und rückwärtsgewandt.
  2. Die Verschmelzung der Welt zu einer einzigen ökonomischen Funktionseinheit, wobei sich die wirtschaftlichen Aktivitäten durch den globalen Arbitrage- und Finanzkapitalismus weitreichend verändert und den Nationalstaat überfordert haben.
  3. Die Auflösung der traditionellen Sozial- und Beziehungsstrukturen mit dem Zerbersten der Bindeglieder zwischen historischen Erfahrungen und Gegenwartsentscheidungen. Der Zusammenhalt der Gesellschaften geht verloren.

Hinzu kommt, was Hobsbawm zu seiner Zeit erst wenig oder gar nicht voraussehen konnte:

  1. Die Herausforderungen durch die Globalisierung der ökologischen Krisen und Ressourcenausbeutung. Dadurch stößt der Glaube an die Linearität des Fortschritts (als eine permanente Vorwärtsbewegung der Gesellschaft, angetrieben vom Wachstum von Wirtschaft und Technik) an Grenzen. Das vorherrschende Paradigma Schneller, Höher und Weiter gefährdet das Erdsystem, auf das die Menschheit angewiesen ist.
  2. Die Digitalisierung und der Vormarsch der künstlichen Intelligenz (KI). Sie können die Möglichkeiten der Manipulation auf eine neue Stufe heben. Die KI ist die Fähigkeit einer Maschine mit neuronalem Netzwerk. Sie kann erhebliche Auswirkungen auf Arbeitsmarkt, Kultur und Wirtschaft sowie auch auf die Möglichkeiten von Kriegsführungen haben.

Dieser epochale Umbruch unserer Zeit braucht weitreichende Strukturreformen, um menschliches Leben zu sichern – und nicht nur ein grün angestrichenes „Weiter so“, welches uns in die Krisen geführt hat und sie noch weiter verschärft. In der Konsequenz heißt das: Die Transformation muss künftig sozial-ökologisch gestalten werden, um auf Dauer ein gutes Leben für alle zu verwirklichen. Das betrifft in erster Linie die Modernisierung kapitalistischer Wirtschaftssysteme und die Umgestaltung kapitalistischer Lebensformen.

Ohne diesen Reformrahmen bleibt der eigentliche Kern der Transformationsdebatte außen vor. Bei allen Schwachstellen und weißen Flecken seiner Arbeit: Polanyi kritisierte zu Recht die ungezügelten Marktgesellschaften, in denen Preise und Gewinne das wirtschaftliche Tun bestimmen. Sie sind die Verursacher und Treiber der Krisen.

Auch semantische Korrekturen reichen nicht. Die EU-Kommission hat mit dem großen Anspruch, eine klimapolitische Vorreiterrolle einzunehmen, einen Öko-Deal (oder Green Deal) in ihr Programm aufgenommen. Doch dieser Öko-Deal ist weit weg von der Spur, die Polanyi mit seiner sozial-ökonomischen Analyse gelegt hatte. Die EU verkennt, dass Klimaschutz nur möglich wird, wenn er soziale und ökologische Gerechtigkeit als Einheit versteht, die eng miteinander verbunden sind. Sie muss dafür auch die Verteilungsfrage stellen, was die EU-Kommission aber nicht tut. Darum wird in der EU auch nicht von einem ökologischen New Deal (Green New Deal) gesprochen. Das würde nämlich die Verschränkung von ökologischer und sozialer Modernisierung verlangen.

Von grundlegenden Änderungen im Wirtschafts- und Gesellschaftssystem findet sich in den Papieren der EU-Kommission wenig. Der Green Deal ist ein Förderungsprogramm von Investitionen – letztlich in der Hoffnung, dass die Verhältnisse so bleiben, wie sie sind. Doch das ist eine Illusion. Im Öko-Deal steht nichts von Umverteilung, nichts von den ökologischen Grenzen des Wachstums, nichts von einer neuen gesellschaftlichen Reformvision. Das Neuausteilen der Karten findet nicht statt.

Unregulierte Marktgesellschaften zerstören Mensch und Natur

Es ist dringend notwendig, Klarheit zu schaffen, was unter Transformation zu verstehen ist. Auch, weil sich die ökologischen und gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben dramatisch verschärfen. Die Menschheit ist zum stärksten Treiber der Naturprozesse geworden. Wir haben eine neue geologische Erdepoche erreicht: das Anthropozän (Menschenzeit). Es geht darum, ob die Menschheit noch eine Zukunft hat, wenn sie die natürlichen Lebensgrundlagen weiter zerstört.

In der heutigen Menschenzeit ist die Frage der sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation zur zentralen Überlebensfrage geworden. Denn die Menschheit ist dabei, die planetaren Grenzen des Wachstums zu überschreiten.  Von daher lohnt es sich nicht nur, den Pfad von Karl Polanyi in einer erweiterten Form wiederaufzunehmen. Es ist vielmehr zur Notwendigkeit geworden.

Die NaturFreunde Deutschlands stellen – wie Karl Polanyi – die Kritik der unregulierten Marktgesellschaft ins Zentrum ihrer Bewertung. Das ist der Pfad, der konkretisiert werden muss, damit die Menschheit eine gute Zukunft hat.

Michael Müller · Janeta Mileva · Uwe Hiksch
Mitglieder des Bundesvorstandes der NaturFreunde Deutschlands

Literatur

  • Conkin, Paul (1975): Der New Deal · In: Wolf-Dieter Narr, Claus Offe: Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität. Köln
  • Hobsbawm, Eric (1993): Das Jahrhundert der Extreme. Wien
  • Müller, Michael, Hg. (2019): Paul J. Crutzen. Das Anthropozän. München
  • Müller, Michael / Peter Hennicke (1996): Wohlstand durch Vermeiden. Darmstadt
  • Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Frankfurt/Main
  • Rzepka, Vincent (2014): Wiedergelesen: Die Geschichte vom Kampf der Giganten: Karl Polanyis „Great Transformation“ · auf: theorieblog.de, Berlin
  • Sachs, Wolfgang (2013): Missdeuteter Vordenker · In: Politische Ökologie: Baustelle Zukunft. München
  • Touraine, Alain (1972): La Production de la Societé. Paris
  • Wehling, Elisabeth (2016): Politisches Framing. Köln
  • Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2011): Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin